Chronische Rückenschmerzen: Die Bedeutung biopsychosozialer Faktoren

Rückenschmerzen tun körperlich weh, haben aber auch psychische und soziale Ursachen. Das zu verstehen, kann einer Chronifizierung vorbeugen.

Rehmesmee Gojowy

7 Min. Lesezeit · Feb 29, 2024
Man sieht die Hände von zwei Menschen. Einer greift nach den Händen von einer Frau, die auf einem Sofa sitzt. Sie halten Hände zur Unterstützung.

Rückenschmerzen sind nicht gleich Rückenschmerzen. Ihre Entstehung ist äußerst individuell, so auch die Beziehung von Menschen zu ihren Schmerzen.

Vielleicht gehörst du eher zu der Sorte, die Rückenschmerzen auf die leichte Schulter nimmt, frei nach dem Motto: Rückenschmerzen sind wie eine kurze Erkältung – unangenehm, aber bald wieder weg. Damit hast du nicht unrecht, denn die Chancen, dass Rückenschmerzen wieder ganz verschwinden, sind sehr gut.1,2

Diese positive Einstellung kann dazu führen, dass deine akuten Schmerzen nicht chronisch werden, da du dem Schmerz keine große Bedeutung beimisst. Du siehst also, dass bei der Entstehung von Rückenschmerzen mehrere Faktoren eine Rolle spielen – nicht nur die physischen.

Gut zu wissen: In der Regel haben Rückenschmerzen keine bedrohliche Ursache, insbesondere wenn keine akut behandelbare Erkrankung vorliegt. In diesem Fall sprechen Ärzt:innen von nicht-spezifischen Rückenschmerzen. Meist sind sie eine Folge von Überlastung, ungünstigen Bewegungen oder einfach Stress.

Rückenschmerzen entstehen also aus einem komplexen Zusammenspiel von körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren. Das beantwortet auch die Frage, warum Rückenschmerzen bei manchen Menschen chronisch werden und bei anderen schneller vorübergehen. Schließlich sind unsere Lebensweisen sehr unterschiedlich.

Aber was lässt sich auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Entstehung von nicht-spezifischen Rückenschmerzen sagen und welche Behandlung ist die richtige? Wir machen uns auf die Suche nach Antworten.

Was sagt das Biopsychosoziale-Modell?

Stress und Belastungen aus allen Lebensbereichen, wie beispielsweise Konflikte in der Familie oder am Arbeitsplatz, führen dazu, dass du Schmerzen noch stärker wahrnimmst. Auch sind sie daran beteiligt, wie lange deine Schmerzen anhalten. Du siehst, dass körperliche, psychische und soziale Aspekte zusammenspielen, was im Biopsychosozialen-Modell von Krankheit beschrieben ist.1,2,3

Wissenschaftler:innen haben bereits in Studien nachgewiesen, wie sehr das Umfeld und die eigene Umgangsweise mit Schmerz darüber entscheiden, ob Schmerzen chronisch werden.4,5,6 Schauen wir uns mal an, was genau dahinter steckt.

Was sind psychische Einflussfaktoren?

Zu den psychischen Faktoren gehören deine Gedanken, Gefühle und deine Wahrnehmung. Wenn du zum Beispiel den Schmerz als bedrohlich wahrnimmst, kann das eher dazu führen, dass deine Schmerzen bestehen bleiben.

Auch dysfunktionale Gedanken und Katastrophisieren erhöhen das Risiko für länger anhaltende Schmerzen. Manche von uns neigen beispielsweise dazu, die Schmerzen als etwas Unveränderbares und Schreckliches anzusehen oder sich hilflos zu fühlen. Diese Umgangsweisen erhöhen das Risiko einer Chronifizierung.4,5,6 Wichtig ist zu verstehen, dass es nicht darum geht, diese Gedanken und Gefühle einfach „abzuschalten”. Vielmehr kannst du dir darüber bewusst werden, was gerade in dir vorgeht und deinen Umgang mit Schmerz reflektieren.

Auch ein zunehmendes Schon- und Vermeidungsverhalten, das als Folge einer Angst vor weiteren oder verstärkten Schmerzen entsteht, beeinflusst den Krankheitsverlauf negativ und ist eine Kombination der körperlichen und psychischen Faktoren. Das führt zu einer geringeren körperlichen Aktivität und langfristig zu einer reduzierten Leistungsfähigkeit sowie Muskelabbau.

So entsteht ein echter Teufelskreis, denn die reduzierte Aktivität hat wiederum Einfluss auf unsere Stimmung, unser Wohlbefinden und Körpergefühl. Schließlich ist es echt frustrierend, alltägliche Dinge nicht mehr mit der gewohnten Leichtigkeit durchführen zu können. Traurigkeit und Lustlosigkeit können die Folge sein.

Auf der Verhaltensebene kann das zu einem sozialen Rückzug und der Vermeidung sozialer Aktivitäten führen – Risikofaktoren für eine depressive Verstimmung und ein dauerhaftes Anhalten der Schmerzen.4,5,6

Auf der anderen Seite zeigen manche von uns als Reaktion auf die Schmerzen auch ein ausgeprägtes Durchhaltevermögen – einfach durchziehen! So laufen wir allerdings Gefahr, die Signale unseres Körpers zu überhören und unsere Grenzen zu überschreiten, was das Risiko für eine Chronifizierung erhöht.1,4,7

Puh, es gibt also einiges zu beachten! Dauern deine Rückenschmerzen schon länger an, wird dein Arzt bzw. deine Ärztin die hier beschriebenen psychischen Risikofaktoren mit einem speziellen Fragebogen erfassen.

Was sind soziale Einflussfaktoren?

Werfen wir einen Blick auf die soziale Komponente von Schmerz, die auch als „Blue and Black Flags“ bezeichnet wird. Soziale Faktoren umfassen das Netzwerk an Beziehungen, in dem wir leben – Familie, Freund:innen, Kolleg:innen –, und wie diese Beziehungen unsere Gesundheit beeinflussen. Ein starkes, unterstützendes soziales Netzwerk kann eine positive Wirkung haben, während Konflikte oder Isolation uns negativ beeinflussen können.

  • Unterstützung im Alltag: Wenn jemand Rückenschmerzen hat, kann praktische Hilfe von Freund:innen oder der Familie entscheidend sein. Das kann von einfachen Tätigkeiten wie Einkaufen oder Haushaltshilfe bis hin zu emotionaler Unterstützung reichen. Wenn wir wissen, dass wir uns auf unser Umfeld verlassen können, kann das den durch die Schmerzen entstehenden Stress reduzieren.
  • Arbeitsumgebung: Die Art unserer Arbeit und das Klima am Arbeitsplatz spielen eine große Rolle. Jemand, der schwere körperliche Arbeit verrichtet oder lange Stunden am Schreibtisch sitzt, ohne ergonomische Unterstützung, kann dadurch chronische Rückenschmerzen entwickeln. Selbst verständnisvolle Arbeitgeber:innen, die auf gesunde Arbeitsbedingungen achten, wirken sich also positiv auf unser Schmerzerleben aus.
  • Soziale Aktivitäten: Die Teilnahme an sozialen Aktivitäten und Hobbies kann auch bei Rückenschmerzen eine Rolle spielen. Soziale Interaktionen und das Gefühl der Zugehörigkeit können das Wohlbefinden steigern und helfen, Schmerzen besser zu managen.
  • Kulturelle Einflüsse: Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Ansätze im Umgang mit Schmerzen und Gesundheitsversorgung. In einigen Kulturen ist es üblich, Schmerzen zu ertragen und nicht darüber zu sprechen, was zu einer Vernachlässigung der Behandlung führen kann. In anderen Kulturen gibt es eine starke Tradition von gemeinschaftlicher Unterstützung, die den Heilungsprozess fördern kann.

Diese Beispiele zeigen, wie vielfältig und tiefgreifend der soziale Aspekt positiv auf unsere Gesundheit und insbesondere auf Rückenschmerzen, einwirken kann. Auf der anderen Seite können Herausforderungen im sozialen Bereich zu einer Spirale an Schonung und Vermeidungsverhalten führen, ähnlich wie bei psychologischen Faktoren.

Du siehst, alle Ebenen beeinflussen sich gegenseitig.1,4,8 Die häufigste Ursache für ein dauerhaftes Anhalten von nicht-spezifischen Rückenschmerzen ist also eine Kombination aus länger andauernden körperlichen, seelischen und sozialen Belastungen.

Machen psychosoziale Belastungen wie Stress immer krank?

Keine Sorge, nur weil du Stress hast, bedeutet das nicht, dass du automatisch krank wirst oder chronische Schmerzen entwickelst. Nicht jeder Stress macht krank.

Die Forschung zeigt, dass Stress erst dann zu einem Problem wird, wenn nicht mehr ausreichende Entspannungs- bzw. Regenerationsphasen vorhanden sind, die dir ein Gefühl des Ausgleichs geben.9 Dann reagieren deine Muskeln auf den anhaltenden Stress mit einer erhöhten Spannung. Das wirkt sich auch auf deine Sehnen, Faszien und dein Bindegewebe aus, was zu Verkürzungen und schmerzhaften Verspannungen führen kann. Die Muskeln sind quasi überaktiviert und können sich aufgrund der fehlenden Entspannung nicht mehr richtig erholen.10

Bildlich kannst du dir das wie ein großes Fass vorstellen.

Das Fass sammelt alle Belastungen und Anspannungen, denen du ausgesetzt bist. Irgendwann ist das Maß voll, wenn mehr Stress „hineinfließt“ als „abfließt“, das heißt, wenn keine Strategien angewandt werden, um Stress zu reduzieren.

Dabei muss Stress nicht nur ein einzelnes schwerwiegendes Lebensproblem sein, viele kleine alltägliche Stresssituationen können das Fass zum Überlaufen bringen und Symptome wie zum Beispiel Rückenschmerzen auslösen.11,12,13

Schon gewusst? Wissenschaftler:innen vermuten, dass Rückenschmerzpatient:innen auf äußere und innere Stressoren mit einer deutlich stärkeren Anspannung der Rückenmuskulatur reagieren. Außerdem bleibt die Anspannung länger bestehen, auch wenn eine stressige Situation bereits vorüber ist.

Deshalb empfehlen wir dir, regelmäßig bewusste Auszeiten zu nehmen und Entspannungsübungen sowie Bewegung in deinen Alltag zu integrieren. Das trägt zur Reduktion deines Stresslevels bei – ein wesentlicher Ansatzpunkt in der Behandlung von nicht-spezifischen Rückenschmerzen, die länger anhalten.3,14,15,16,17,18

Wie sieht konkret die Behandlung von Rückenschmerzen nach dem Biopsychosozialen-Modell aus?

Die Behandlung von Rückenschmerzen nach dem Biopsychosozialen-Modell setzt genau bei den beschriebenen drei Bereichen an: Körper, Psyche und soziale Faktoren.

Eine Therapie beginnt mit dem Faktor, der die Schmerzen am meisten verstärkt und versucht, körperliche sowie psychosoziale Risikofaktoren für Schmerzen abzubauen.

Dieser Behandlungsansatz steht unter dem Motto: „Aktiv vor passiv – Bewegen statt Schonen“, da ein aktiver Umgang mit den Schmerzen diese nachgewiesenermaßen verringert und einer Chronifizierung vorbeugt.16

Dieser Ansatz in der Schmerzbehandlung wird auch als „Multimodale Therapie“ bezeichnet und nicht nur bei nicht-spezifischen Rückenschmerzen, sondern allgemein bei langanhaltenden Schmerzerkrankungen eingesetzt.15,16,17

Um auf die verschiedenen Bereiche des Biopsychosozialen-Modells gleichzeitig eingehen zu können, sind bei der Multimodalen Therapie verschiedene Fachbereiche an der Behandlung beteiligt. Ein Team bestehend aus Ärzt:innen, Psycholog:innen, Physiotherapeut:innen und gegebenenfalls auch anderen Berufsgruppen führt im regelmäßigen Austausch die Behandlung durch. Bei langanhaltenden Schmerzen wird die Multimodale Therapie in einem stationären Setting angeboten oder in einer Tagesklinik. Diese Therapieprogramme dauern meistens mehrere Wochen. Dabei wird die Behandlung individuell an die jeweiligen Lebensumstände und persönlichen Bedürfnisse angepasst.

Die wichtigsten Bestandteile der multimodalen Behandlung sind körperliche Aktivität, Schmerzbehandlung und psychologische Verfahren. Außerdem werden wichtige Informationen über die Entstehung und den Umgang mit Rückenschmerzen vermittelt und Entspannungsverfahren eingesetzt.

Ziel dabei ist es, neue Strategien der Schmerzverarbeitung und Schmerzbewältigung aus verschiedenen Bereichen kennenzulernen, um sie anschließend im eigenen Alltag umzusetzen.8,15,16,17

Schon gewusst? Kaia Rückenschmerzen basiert auf den wichtigsten Elementen der Multimodalen Schmerztherapie und bringt sie auf dein Smartphone oder Tablet. Bei Kaia findest du physiotherapeutische Bewegungsübungen, wichtige Informationen über Rückenschmerzen und Entspannungsübungen in nur einer App. Das Programm kannst du in ca. 20 Minuten jederzeit auch von zuhause durchführen. Das Beste daran? Kaia wird von deiner Krankenversicherung bezahlt. (CTA)

Kurz gesagt

Zusammenfassend ist das Biopsychosoziale-Modell ein umfassender Ansatz, der uns hilft zu verstehen, wie eng verknüpft unsere körperliche Gesundheit mit unserem geistigen Wohlbefinden und unserem sozialen Umfeld ist. Eine ganzheitliche Betrachtung und Behandlung, die alle drei Aspekte des Biopsychosozialen-Modells berücksichtigt, kann zu einer effektiveren Genesung und letztlich zu einer besseren Lebensqualität führen. Es ist eine Erinnerung daran, dass Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit; sie ist ein harmonisches Gleichgewicht zwischen Körper, Geist und sozialem Wohlbefinden.

Quellen

  1. http://www.leitlinien.de/nvl/html/kreuzschmerz/kapitel-2;
  2. http://www.patienten-information.de/mdb/downloads/nvl/kreuzschmerz/kreuzschmerz-1aufl-vers2-pll.pdf
  3. Butler D. & Mosley L. (2016). Schmerzen verstehen. Heidelberg: Springer.
  4. Wippert, P.-M., Fliesser, M. & Krause, M. (2017). Risk and protective factors in the clincal rehabilitation of chronic back pain. Journal of Pain Research, 10, 1569-1579.
  5. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/10788861.
  6. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20833704
  7. Hasenbring M. I. et al. (2012). Pain-related avoidance versus endurance in primary care patients with subacute back pain: Psychological characteristics and outcome at a 6-month follow-up. Pain, 153, 211-217.
  8. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19082875.
  9. Hans-Ulrich Wittchen (2011). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
  10. https://www.schmerzgesellschaft.de/patienteninformationen/herausforderung-schmerz/schmerz-und-psyche
  11. Wachter M. (2012) Chronische Schmerzen. Heidelberg: Springer.
  12. http://www.patienten-information.de/kurzinformationen/ruecken
  13. http://www.dgss.org/patienteninformationen/herausforderung-schmerz/schmerz-und-psyche/
  14. Gatchel et al. (2007). The Biopsychosocial Approach to Chronic Pain: Scientific Advances and Future Directions. Psychological Bulletin, 133(4), 581-624.
    Truchon, M. (2001). Determinats of chronic disability related to low back pain: Towards an integrative biopsychosocial model. Disability and Rehabilitation: An International, Multidisciplinary Journal, 23 (17), 758-767.
  15. http://web.a.ebscohost.com.emedien.ub.uni-muenchen.de/ehost/pdfviewer/pdfviewer?vid=3&sid=0132d66a-0744-45a7-a0c6-fc90de71bda8%40sessionmgr4010
  16. Arnold, B. et al. (2009). Multimodale Schmerztherapie. Konzepte und Indikation. Schmerz, 23(9), 112-120.
  17. http://www.leitlinien.de/nvl/html/kreuzschmerz/kapitel-9
  18. Cherkin D. C. et al. (2016). Effects of Mindfulness-Based Stress Reduction vs. Cognitive-Behavioral Therapy and Usual Care on Back Pain and Functional Limitations among Adults with Chronic Low Back Pain: A Randomized Clinical Trial. JAMA,315 (12), 1240-1249.
Rehmesmee Gojowy
Lifestyle & Healthcare Copywriterin bei Kaia Health
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