Die Rolle der Psyche bei Schmerz

Körperlicher Schmerz und Psyche hängen eng zusammen. Erfahre, welche Strategien dir dabei helfen, besser mit deinen Schmerzen umzugehen.

Anne Plidschun

6 Min. Lesezeit · Sep 3, 2024
Gesicht einer Frau mit Mütze. Sie hat die Augen geschlossen und ist draußen an der frischen Luft. Es sieht aus als würde sie einen tiefen Atemzug nehmen und sich entspannen.

Über Anne Plidschun

Portrait von Anne Plidschun, Psychologin bei Kaia Health.

Anne Plidschun ist Diplom-Psychologin und arbeitet bei Kaia Health. Ihre Schwerpunkte liegen auf der kognitiven Verhaltenstherapie, psychologischer Schmerztherapie sowie Entspannungsverfahren. Dank ihrer therapeutischen Erfahrung im klinisch-psychiatrischen und ambulanten Bereich ist Frau Plidschun unsere erste Ansprechpartnerin für Themen rund um Psychologie, mentale Gesundheit und Achtsamkeit!

Es ist schwer vorstellbar, dass körperliche Schmerzen wie Rückenschmerzen und die psychische Gesundheit zusammenhängen. Tatsächlich spielt aber die Psyche bei Schmerzen eine große Rolle. Zwischen Schmerz und der psychischen Gesundheit besteht eine enge Wechselbeziehung.

In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit folgenden Themen:

1. Wie hängen Psyche und Schmerz zusammen?

2. Wie sieht psychologische Schmerztherapie aus? 

4. Was sind hilfreiche psychologische Coping-Strategien bei Schmerzen?

3. Welche psychische Erkrankungen kommen bei Schmerz häufig vor und welche Therapien gibt es?


1. Wie hängen Psyche und Schmerz zusammen? 

Wenn Schmerzen lange andauern oder immer wiederkehren, können sie deutliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben. Dauerhafte oder wiederkehrende Schmerzen können auf lange Sicht die gesamte Lebensführung beeinträchtigen. Sowohl in der Freizeit, im Job und im Sozialleben können Schmerzen zu Veränderungen führen. 

Die körperlichen Einschränkungen, die Schmerzen mit sich bringen, führen oft dazu, dass man sich weniger bewegt und sich zurückzieht. Kein Wunder, dass darunter auch die Psyche leidet. Viele Betroffene entwickeln aufgrund der anhaltenden Schmerzerkrankung depressive oder ängstliche Symptome. Auch andersherum beeinflussen Stress und Psyche den Umgang mit Schmerz und können dazu beitragen, dass Schmerzen länger anhalten. Diese Wechselwirkung zwischen körperlichen Faktoren und psychosozialen Faktoren wird auch als das bio-psycho-soziale Schmerzmodell bezeichnet.1,2

Die Psyche spielt sowohl bei der Schmerzverarbeitung als auch für den Umgang mit Schmerz eine große Rolle. Sie beeinflusst uns auf zwei Wegen: 

A.) Emotionale Bewertung und vergangene Schmerzereignisse
Bei der Schmerzwahrnehmung wird das Schmerzsignal von der betroffenen Körperstelle, zum Beispiel dem unteren Rücken, über die Nervenbahnen durch das Rückenmark zum Gehirn weitergeleitet und dort verarbeitet. Im Gehirn kommt erstmal nur der neutrale sensorische Schmerzreiz an. Das sind Schmerzinformationen über das „Was, wo und wie”, die von den Hautzellen bis zum Gehirn weitergeleitet wurden. Diese Informationen werden von unserem Gehirn automatisch bewertet und einsortiert. Ist der Schmerz bedrohlich und gefährlich? Ist er es nicht?
Jetzt kommt die Psyche ins Spiel: Die zuvor neutrale Schmerzinformation wird nun mit einer gedanklichen und emotionalen Bewertung verknüpft. Diese Bewertungen beruhen auf Erinnerungen an frühere Schmerzen und wie diese damals wahrgenommen wurden. Das ist auch der Grund dafür, warum jeder Mensch im Laufe seines Lebens eine individuelle Schmerzwahrnehmung entwickelt. 

B.) Das aktuelle Befinden

Die Schmerzwahrnehmung wird zudem vom aktuellen psychischen Befinden beeinflusst. Eine negative, depressive Stimmung verstärkt oftmals die Schmerzwahrnehmung, wohingegen eine positive Stimmung dazu führt, dass  Schmerzen als weniger stark wahrgenommen werden. 
Letztlich entscheidet das Gehirn je nach Bewertung und psychischem Befinden, wie mit dem Schmerz umgegangen werden soll und welches Schmerzverhalten gezeigt wird. Besteht eine ausgeprägte psychosoziale Belastung, ist der Umgang mit Schmerz oftmals erschwert. Depressive Gefühle, Ängste und Hilflosigkeit treten verstärkt auf und halten die Betroffenen davon ab, hilfreiche Schmerzbewältigungsstrategien anzuwenden. Häufig kommt es zu weniger hilfreichen Verhaltensweisen wie:

  • Schonverhalten, 
  • Katastrophisieren der körperlichen Beschwerden, was bedeutet, dass Betroffene in Bezug auf die Schmerzen das Schlimmste befürchten und sich sehr starke Sorgen machen,
  • körperliche Inaktivität, 
  • sozialer Rückzug und 
  • häufige Krankschreibungen.3,4 

Da bei Schmerz also nicht nur körperliche Faktoren, sondern auch andere Faktoren wie die Schmerzwahrnehmung und bio-psycho-soziale Faktoren eine große Rolle spielen, wird zur Behandlung von anhaltenden oder wiederkehrenden Schmerzen die sogenannte Multimodale Schmerztherapie empfohlen. Das Therapieprogramm folgt einem ganzheitlichen Ansatz. Der Schmerz wird sowohl von ärztlicher, bewegungstherapeutischer, als auch psychologischer Seite behandelt. Die verschiedenen Berufsgruppen arbeiten dabei Hand in Hand.5,6

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2. Wie sieht psychologische Schmerztherapie aus? 

Die psychologische Schmerztherapie oder Schmerzpsychotherapie wird normalerweise im Rahmen der Multimodalen Schmerztherapie angeboten und beruht auf den Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie.
Die psychologische Schmerztherapie findet sowohl in Gruppensitzungen als auch in Einzelsitzungen statt. In erster Linie ist das Ziel der Therapie, Wissen über folgende Aspekte zu vermitteln:

  • die Schmerzverarbeitung, 
  • die Schmerzwahrnehmung,
  • den Zusammenhang von Schmerz und bio-psycho-sozialen Faktoren. 

Betroffene sollen möglichst ausführlich darüber informiert werden, was der Schmerz mit ihnen macht, um besser damit umgehen zu können. Es werden psychosoziale Belastungsfaktoren identifiziert, die eine Rolle bei der Aufrechterhaltung der Schmerzen gespielt haben, beispielsweise die Stressbelastung am Arbeitsplatz. Das bisherige Schmerzverhalten wird von den Therapeut:innen wie auch von den Betroffenen selbst beobachtet, um Veränderungsmöglichkeiten zu erarbeiten. In der Gruppe lernen die Teilnehmenden neue Strategien erlernt, wie sie besser mit dem Schmerz und bisherigen Belastungsfaktoren umgehen können. Dazu gehören neben hilfreichen Strategien zur Schmerzbewältigung auch Techniken zur Stressbewältigung und Entspannung wie die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Begleitend zu den Gruppensitzungen finden psychologische Einzelgespräche statt, die einen Raum bieten, um persönliche Themen außerhalb der Gruppe zu besprechen. 2,4

3. Häufige psychische Erkrankungen bei Schmerz und ihre Therapie

Die häufigsten psychischen Erkrankungen, die im Zusammenhang mit Schmerzen auftreten, sind Depression, Angsterkrankungen sowie die posttraumatische Belastungsstörung. In einigen Fällen bestehen die psychischen Erkrankungen bereits vor dem Auftreten der Schmerzen und die Symptomatik der psychischen Erkrankung wird durch die Schmerzerkrankung erneut ausgelöst oder verstärkt. Auch als Folge einer langwierigen Schmerzerkrankung können psychische Erkrankungen ausgelöst werden. In den meisten Fällen handelt es sich hier um Depressionen und Ängste. Die alleinige Behandlung der Schmerzerkrankung ohne Berücksichtigung der psychischen Erkrankung verläuft oftmals eher unzufriedenstellend und frustrierend. Daher ist es in diesem Fall wichtig, psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen.  4,7

Die ersten Anzeichen für eine psychische Erkrankung sind oft Schlaflosigkeit, Erschöpfung und Konzentrationsstörungen. Typische Symptome einer Depression sind eine durchgehend niedergeschlagene Stimmung, der Verlust an Freude und Interesse im Alltag sowie Antriebslosigkeit. Einige Symptome ähneln denen von Schmerzerkrankungen. Deshalb ist hier eine besonders genaue Diagnostik notwendig. Wenn die Symptome länger als zwei Wochen anhalten, sollte man einen Arzt bzw. eine Ärztin oder einen Psychotherapeuten bzw. eine Psychotherapeutin aufsuchen. So kann man diagnostisch abklären, ob eine psychische Erkrankung neben der Schmerzerkrankung vorliegt.8 

Im Falle von psychischen Erkrankungen neben der Schmerzerkrankung wird unbedingt empfohlen, zusätzlich zur Schmerztherapie mit  einer ambulanten Psychotherapie zu beginnen.
Zur Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie sollten sich Betroffene am besten vom Arzt bzw. von der Ärztin ihres Vertrauens bei der Suche unterstützen lassen. Zusätzlich können sie sich selbst über die Portale der Psychotherapeutenkammer oder Kassenärztlichen Vereinigung erkundigen: 

4. Psychologische Coping-Strategien bei Schmerzen

Der Umgang mit Schmerzen, auch Coping genannt, beeinflusst in erheblichem Maße, wie sich die Schmerzen langfristig entwickeln. So führt beispielsweise ein ängstlicher, eher katastrophisierender Umgang mit Schmerzen zu weniger hilfreichen Reaktionen wie Bewegungsangst und Vermeidungsverhalten.
Die Betroffenen landen dadurch in einem Kreislauf aus Angst und Inaktivität, was langfristig zu einer Aufrechterhaltung der Schmerzen oder einer Schmerzverstärkung beitragen kann. In der Schmerzpsychotherapie geht es daher darum, hilfreiche Schmerzbewältigungsstrategien zu erlernen.4

Wie sehen hilfreiche Coping-Strategien bei Schmerzen aus?

  1. Trotz Schmerz aktiv bleiben – in der Schmerztherapie geht es unter anderem um den Aufbau und die Wiederaufnahme von körperlichen und sozialen Aktivitäten, um den Kreislauf von Schmerz, Inaktivität und Vermeidungsverhalten zu durchbrechen. Das aktivere Verhalten verhindert langfristige negative Konsequenzen wie den sozialen Rückzug, Muskelabbau und depressive Verstimmung.
  2. Versuchen, nicht zu katastrophisieren oder den Schmerz zu unterdrücken – Beides sind keine hilfreichen Strategien, sondern verstärken den Schmerz langfristig. Wichtig ist es, einen hilfreichen Umgang mit den schmerzbezogenen Gedanken zu entwickeln. Eine Strategie ist es, zu lernen, die automatischen Gedanken und Bewertungen achtsam wahrzunehmen und ihnen hilfreiche, alternative Gedanken entgegenzusetzen. 
  3. Anfangen, den Schmerz zu akzeptieren – eine akzeptierende Haltung gegenüber den Schmerzen hilft dabei, nicht zu verzweifeln und trotzdem weitermachen zu können. Akzeptieren heißt nicht zu ignorieren oder zu resignieren, sondern bewusst mit dem Schmerz umzugehen und zu versuchen, sich durch den Schmerz nicht einschränken zu lassen. 
  4. Bewusste Ablenkung suchen – Zu lernen, den Aufmerksamkeitsfokus vom Schmerzort wegzudenken und sich auf andere Umgebungsreize zu konzentrieren, kann ebenfalls helfen. Diese Strategie nennt man aktive Aufmerksamkeitsumlenkung und sie unterstützt dabei, sich weniger vom Schmerz einschränken zu lassen. 
  5. Stress reduzieren – Stressfaktoren im Alltag bewusst wahrzunehmen und zu versuchen, diese zu reduzieren, ist ein wichtiger Ansatz. Hilfreiche Strategien sind hier Strategien zum Zeitmanagement, aktive Pausengestaltung oder Konfliktmanagementstrategien.
  6. Entspannung im Alltag unterbringen und zwar jeden Tag – Es ist hilfreich Entspannungstechniken aktiv anzuwenden und in den Alltag zu integrieren. Das lindert sowohl den Stress als auch die Schmerzen und führt zu einer gelasseneren, entspannteren Grundhaltung. Hierbei bietet sich zum Beispiel die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson an.4,9


Kurz gesagt

Bei jeder Art von körperlichen Schmerzen, insbesondere bei chronischen Schmerzen, lohnt es sich, einen genauen Blick auf die psychische Gesundheit zu werfen. Sollte die psychische Gesundheit Unterstützung benötigen, kann eine psychologische Schmerztherapie helfen.
Die psychologische Schmerztherapie hilft dabei, Belastungsfaktoren zu erkennen und einen neuen Weg zu finden, um mit den Schmerzen umgehen zu können. Wichtig ist es, in der psychologischen Schmerztherapie festzustellen, welche Rolle die Psyche bei der Schmerzverarbeitung und beim Schmerzverhalten einnimmt. Möglicherweise liegt es auch an psychosozialen Belastungsfaktoren, dass die Schmerzen so lange anhalten.
Die psychologische Schmerztherapie bietet daher vielseitige, hilfreiche Strategien, die den Umgang mit Schmerz erleichtern und zu einer langfristigen Verbesserung beitragen können.

Quellen

  1. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0304395903002021
  2. https://link.springer.com/article/10.1007/s004820050229
  3. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-47983-4_7 
  4. https://link.springer.com/article/10.1007/s004820050181
  5. https://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-662-50512-0 
  6. Kröner-Herwig, B., Frettlöh, J., Klinger, R., & Nilges, P. (2011). Schmerzpsychotherapie. Berlin: Springer. (Kapitel 1, 15, 19) 
  7. https://www.leitlinien.de/nvl/kreuzschmerz
  8. https://link.springer.com/article/10.1007/s00482-008-0741-x
  9. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25786741
  10. http://www.icd-code.de/icd/code/F32.1.html

Anne Plidschun
2 Kommentare

2 Kommentare

  1. Domi

    Immer wieder der selbe Lehrbuch Unfug, der mir der Realität von Schmerzpatienten nichts, aber auch überhaupt nichts zu tun hat. Es gibt KEINEN Umgang, geschweige denn ein Leben mit Schmerzen. Genau so wenig wie man mit Rauchmelder schlafen kann.
    Immer der selbe Bullshit. Es geht einzig und allein mit Übungen die neuroplastischen Schmerzen zu HEILEN.
    Und kommt mir nicht mit irgendeinem Pseudoverständnis ums Eck. Erstmal selbst durch die Hölle gehen, als irgendwas aus dem Lehrbuch nachzuplappern.
    LG
    Eines langjährigen Schmerzpatienten, dem sein Leben dadurch die Hölle ist.

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    • Rehmesmee Gojowy

      Hallo,
      danke für Ihr Kommentar und das ehrliche Feedback. Der Beitrag wurde von einer Psychologin verfasst, die hauptsächlich auf den Zusammenhang von Psyche und Schmerz bzw. Psyche und Rückenschmerzen aufklären möchte. Hier geht es darum, ein Verständnis für das komplexe Zusammenspiel zwischen Körper und Geist zu erlangen. Wir können nachvollziehen, dass wir mit der eher sachlichen Erläuterung die Lebensrealität von Schmerzpatient:innen nicht ausreichend berücksichtigt haben. Unsere digitale Therapie, Kaia Rückenschmerzen, richtet sich hauptsächlich an Menschen mit nicht-spezifischen akuten, sub-akuten und wiederkehrenden Schmerzen, daher haben wir kaum die Möglichkeit, mit chronischen Schmerzpatient:innen zu sprechen. Danke für Ihre Perspektive. Ihr Feedback nehmen wir auch als Anstoß, uns auf dem Blog mit dem Thema Neuroplastizität und Schmerz zu beschäftigten.

      Mit freundlichen Grüßen,
      Ihr Wirbel für Wirbel Team

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